Ricarda Engelsberger sitzt am Fenster ihres Ateliers. Mit der schwarzen Nähmaschine, die ihr schon seit vielen Jahre treue Dienste leistet, vernäht sie den Saum eines Damenhuts.
Eine kleine Leselampe beleuchtet die Szenerie. Denn am heutigen Februarmorgen steht die Sonne noch tief. Die hohen Häuser aus der Jahrhundertwende versperren ihr den Weg in das Atelier „Mein wunderbarer Hutsalon“.
Ricarda ist Hutmacherin. Die Wuppertalerin fertigt Hüte und sogenannte Headpieces. Letztere sind große, hutähnliche Broschen oder Netze, die Frauen sich gern als schmückendes Accessoire ins Haar stecken. Ferner repariert die Modistin, ein anderer gebräuchlicher Name für ihren Beruf, die Lieblingsstücke ihrer weiblichen und männlichen Kunden: Hüte, Mützen und Zylinder.
Nach ein paar Minuten ist der Saum des roten Damenhuts umgenäht. Ricarda stellt die Nähmaschine zur Seite und legt den Half Hat (ein Hut, der nur den Hinterkopf bedeckt) auf einen langen Holztisch. Dieser Tisch steht mitten im Raum und ist das Herzstück der kleinen Manufaktur. Hier plant und skizziert die Modistin ihre Kreationen, schneidet die Materialien zu und fügt sie schließlich zu einem Hut zusammen.
An der Seite liegen ein paar Kugelschreiber, Zettel mit Zahlen und Skizzen darauf, mehrere Bügeleisen, Stecknadeln und große Schneiderscheren.
Hinter Ricarda steht ein schwarzes Metallregal im Stil der späten 40er-Jahre. Darauf präsentiert sie eine Auswahl ihrer Arbeiten. Die meisten dieser Damenhüte bestehen aus Stoff, manche aus Leder oder Filz.
An der Wand gegenüber liegt Schachtel neben Schachtel. Mit Handschrift steht darauf „Tuchfilz weiß“ oder „Ribbons“ geschrieben. Aber die Beschriftungen braucht die Modistin gar nicht. So oft, wie sie in die braun-gestreiften Boxen schon gegriffen hat, weiß sie im Schlaf, wo was liegt.
Auf der Linken Seite der Wand hängen Regalbretter voller hölzerner Hutformen: für die Damen zum Beispiel Cloche und Pillbox, für die Herren Fedora und Trilby. Viele Formen sind vintage, die meisten jedoch zeitgenössisch. „Denn die 20er- bis 50er Jahre waren die Hochzeit der Hutmode“, erzählt die Modistin. Kaum eine Frau, kaum ein Mann ging damals ohne Kopfbedeckung aus dem Haus.
Während sie für einen weiteren Half Hat roten Stoff um ein Drahtgestell legt, erzählt Ricarda, dass Hüte inzwischen wieder in Mode sind. „Frauen, die im Winter etwas warmes, aber schickes auf dem Kopf tragen möchten, gehören genauso zu meinen Kunden, wie Bräutigame, die auf ihrer Hochzeit einen Hut tragen möchten.“ Frauen und Männer, die kleine Köpfe haben und daher keine Hüte von der Stange tragen können, besuchen sie ebenfalls in ihrem Wunderbaren Hutsalon oder bestellen online.
Recht groß ist ihr Kundenkreis in der Vintage-Szene. Das freut Ricarda, denn sie selbst hat ein Faible für die Mode der 20er- bis 50er-Jahre. Dies sieht man, wenn man sich in der Hut-Manufaktur umsieht. Auch wenn viele Kunden moderne Kopfbedeckungen bei ihr in Auftrag geben, so manch ein Hut sieht aus, als hätte Ricarda ihn für Asta Nielsen, Ingrid Bergmann oder Clark Gable gefertigt.
Das kommt nicht von ungefähr. Ihre Karriere als Modistin hat sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, bereits früh gestartet. Als junges Mädchen häkelte sie Mützen und sammelte die Hüte ihrer Großeltern. Später gehörten Hüte dann ganz selbstverständlich zu ihrem täglichen Outfit, wenn sie zur Schule ging.
Ricarda brauchte einen kleinen beruflichen Umweg, bis sie erkannte, dass sie ihren Lebensunterhalt mit Hut-Mode bestreiten wollte: Während ihrer kaufmännischen Lehre merkte sie, dass ein Bürojob nichts für sie ist und sie lieber handwerklich tätig sein wollte. Was lag da näher als Modistin zu werden?
„1989 habe ich bei Frau Mölleken in Wuppertal-Barmen meine Ausbildung begonnen“, erinnert sie sich schmunzelnd. „Sie hatte einen Hut-Salon. Der war genau so, wie man ihn von früher kennt.“ Vorn der Verkauf, hinten das Atelier, in dem die Mitarbeiterinnen Damen- und Herrenhüte fertigten und reparierten. „Dort habe ich mein Handwerk von der Pike auf gelernt“, erinnert sie sich noch gern an die Zeit zurück.
Nach ihrer Ausbildung entschied Ricarda sich gegen ein Modestudium und für einen Arbeitsplatz bei einer Wuppertaler Firma, die Hüte für große deutsche Firmen wie Joop, Mark Cain oder Strenesse fertigte. Hier legte sie auch die Meisterprüfung ab.
Es folgten das erste eigene Atelier sowie Engagements als Modistin bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth und im Fundus des Westdeutschen Rundfunks.
Doch irgendwann hatte die Wuppertalerin genug von Film und Theater. „Ich wollte wieder zurück ins richtige Leben“, erzählt sie, als sie mit einer der großen Scheren das Futter für das Hütchen zuschneidet.
So nahm sie für die Festspiele und für den WDR keine Aufträge mehr an und fertigte auch in ihrem Atelier nur noch wenige Hüte. Stattdessen verkaufte Ricarda fortan im Business-to-Business-Bereich Textilien.
Doch so ganz Lebe wohl konnte sie ihrer Leidenschaft nun doch nicht sagen. Denn: „Fünf Jahre später rief mich meine Kreativität wieder. Ich hatte nach der Pause auf einmal wieder richtig Lust Hüte und Headpieces zu fertigen.“
Sie machte kurze fünfe, kündigte den Job und aktivierte in ihrem Wuppertaler Haus wieder ihr Atelier. 2015 zog sie mit ihrem Wunderbaren Hutsalon in Simonsstraße. Seither fertigt Ricarda wieder Hüte für Damen und Herren, vintage und modern.
„Aus alten Filmen“, antwortet sie auf die Frage, woher sie die Inspirationen für ihre Kreationen nimmt. „Alle Hüte, auch die modernen, gehen auf Hutformen zurück, die in den 20er- bis 50er-Jahren entwickelt wurden“, erzählt sie. Und auch die Arbeitstechniken haben sich kaum geändert. Die einzigen richtig technischen Apparate in ihrem Atelier sind eine Nähmaschine aus den 20er-Jahren sowie eine Gerät, mit dem sie Dampf erzeugt, um Stoffe zu glätten. „Es ist immer noch alles reine Handarbeit“, so die Modistin.
Nur noch wenige üben den Beruf der Modistin beziehungsweise des Modisten aus. „In jeder größeren Stadt gibt es schätzungsweise einen Kollegen“, erzählt die Wuppertalerin. Laut Deutsche Welle arbeiten heute in ganz Deutschland noch 250 Hutmacher-Betriebe, die in die Handwerksrolle eingetragen sind. Dem gegenüber stehen rund 11.900 Maßschneider-Ateliers (Quelle: statista.com). Zum Vergleich: In ganz Deutschland gibt es etwa 37.000 KFZ-Betriebe (Quelle: statista.com).
Der Beruf hat eine lange Tradition. Laut Wikipedia gab es bereits 1363 in Nürnberg die Hutmacherzunft. 2004 wurde der dreijährige Ausbildungsberuf von Hutmacher in Modist umbenannt. Hauptsächlich Frauen üben ihn aus. Nach Angaben von Wikipedia waren zum Beispiel im Jahr 2013 alle 48 Azubis, die es in ganz Deutschland gab, junge Frauen.
Damit ihr Beruf so schnell nicht ausstirbt und weil sie ihre Begeisterung für Kopfbedeckungen weitergeben möchte, veranstaltet Ricarda Workshops. An zwei Tagen am Wochenende können die Teilnehmer unter Anleitung der erfahrenen Modistin ihr Lieblingsstück fertigen.
Sie machen es wie die Wuppertalerin: Am Holztisch schneiden sie die Teile zu, formen die Hüte in einem weiteren Schritt an den Holzmodellen. Und an der alten Nähmaschine nähen sie schließlich den Saum ihres Hutes um, gut beleuchtet von der Leselampe.
Und bei so manchem Workshop hat sich schon die Sonne über die Dächer der gegenüber liegenden Jahrhundertwende-Häuser geschlichen, um anders als am heutigen Februartag durch die großen Fenster des Ateliers viel Licht zu spenden. • Text & Fotos: Heiko Kalweit