Bleischwer ziehen die Wolken über die A9 und ihre Nebenroute A99, die nördlich des Dornoch Firth dicht entlang der Küste verlaufen. Wohin ich auch blicke, auf der gesamten Strecke nach John o’Groats liegt alles unter einem tristen, grauen Schleier – der Himmel, die Nordsee, die Straße vor mir, die grünen, saftigen Wiesen und Weiden. Nur ganz vereinzelt reißt die Wolkendecke für einen Moment auf.
Ein Island-Tief, das diese dichte Wolkendecke langsam vor sich hertreibt, wringt immer wieder die nasse Fracht aus und hält die Scheibenwischer meines Minis auf Trab.
Muss ich unbedingt heute von meinem Urlaubsort Inverness in die nördlichste Spitze Schottlands fahren, geht es mir auf meiner Fahrt mehrmals durch den Kopf? – Ja, ich muss . . . und ich will.
Denn eigentlich habe ich mir dieses Wetter sogar gewünscht. Blauer Himmel mit Schäfchenwolken, Sonnenschein, Wärme, kurz Postkartenidyll, all das passt nicht in mein Bild, das ich von Nordschottland habe. Schon eher diese Tristesse, die Kilometer auf Kilometer mein ständiger Begleiter ist.
Ich habe das Gefühl, allein hier oben zu sein. Kein Mensch, kein Auto. Lediglich immer Mal ein paar Häuser, die sich unter den schweren Wolken ducken. Aber kein Mensch ist vor der Tür oder auf der erstaunlich gut ausgebauten Straße.
Und wie um mein Bild von Nordschottland zu erfüllen, steht an der Straße, irgendwo im Nirgendwo, ein leer stehendes Haus. Ich halte an, um es mir anzuschauen. Es ist ganz offensichtlich, dass hier schon lange niemand mehr wohnt.
Nach ein paar Fotos fahre ich weiter, weiter in Richtung Norden. Mein Ziel ist John o’Groats, der nördlichste Ort des schottischen Festlands. Danach kommen nur noch die vorgelagerten Orkney Inseln und die Weite des Atlantiks.
Nach einigen Kilometern fahre ich eine kleine Kuppe herunter. In der Ferne liegt die See, doch unmittelbar links und rechts bewohnte Häuser und einige wenige Autos. Ich habe John o’Groats erreicht.
Mein Weg führt mich direkt in den Hafen, wo ich das Auto parke, um mir den Ort anzusehen. Auch hier begegnet mir Tristesse - und eine einzige Urlauberin. Zusammen beobachten wir eine Fähre, die langsam in den kleinen Hafen fährt. Sie kommt von den Orkney Inseln, die nur einen Steinwurf oder 40 Fährminuten entfernt liegen.
Der Kapitän muss aufpassen. Denn das Hafenbecken ist nur wenig größer als sein Schiff.
Ein Souvenirladen, der der erste und letzte in Schottland zu sein verspricht, ist geschlossen. Es ist heute in John o’Groats nichts los. Nur wenige Menschen sind unterwegs.
Geschlossen auch das Museum „Last House in Scotland“. Und das benachbarte, 1875 erbaute „John o’Groats Hotel“ wartet längst nicht mehr auf Gäste. Es hat sich aufgegeben. Die Lettern „Hotel“ sind an seiner Seite verblasst und kaum noch zu lesen.
Die Zeiten, in denen der kirchenartige Bau am Hafen seinen Gästen spektakuläre Nächte und Tage an der Nordspitze Schottlands bescherte, sind längst vorüber. (Anmerkung: Ich habe diese Reise 2007 unternommen. 2013 wurde das Hotel als „The Inn at John O’Groats“ nach aufwändiger Renovierung als Appartment-Hotel wiedereröffnet. >> Infos zum Hotel )
Auf meinem Rundgang durch den Ort bekomme ich Appetit auf Cream Tea, auf ein Gedeck, das aus einer Kanne schwarzem Tee, Scones, Konfitüre und geschlagener Sahne (clotted cream) besteht. Doch so sehr ich auch suche, ich finde in John o’Groats keinen Tea Room. So setze ich mich ins Auto und fahre ein Stück weiter in Richtung Westen. Immer der Nase nach.
In einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, sehe ich das erlösende Schild, genieße heißen Tee mit Scones und Konfitüre. Danach habe ich genug von der Gegend. Auch wenn ich die wenigen Kilometer noch hätte fahren sollen, erspare ich mir den Ausflug zum nördlichsten Punkt von Schottland, Dunnet Head, oder zur Landspitze Duncansby Head mit den Felsnadeln, an denen Papageientaucher und andere Seevögel nisten.
Ich mache mich auf den gut 190 Kilometer langen Weg zurück nach Inverness – erneut durch die triste Ödnis eines verregneten, grauen Tages. Denn sollte ich mit meinem Auto eine Panne haben, dann bitte nicht bei Dunkelheit in einer so ruhigen, menschenleeren Gegend.
Ich weiß, Nordschottland ist nicht immer so trist, wie ich es beschreibe. An sonnigen Tagen werden John o’Groats und die Landschaft viel freundlicher wirken. Aber ich schildere meine ganz persönlichen Eindrücke und Erlebnisse an diesem einen Tag im Sommer.
Wer aufmerksam die Wetterberichte studiert weiß, dass es hier und in den anderen Teilen Schottlands an vielen Tagen im Jahr frisch und regnerisch ist. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch Ihr auf Eurer Reise nach John o’Groats einen Tag wie ich erwischt. Jedem, der zögert. empfehle ich diese Fahrt. Denn für mich war es ein spannender und interessanter Ausflug.
John o’Groats hat rund 300 Einwohner. Seinen Namen leitet sich von dem Holländer Jan de Groot ab, der 1496 die Erlaubnis erhielt, eine Fährverbindung zu den Orkney Inseln zu unterhalten.
Auch heute noch verbindet eine Fähre die vorgelagerte Inselgruppe mit Schottland. Sie fährt allerdings nur von Mai bis September nur zweimal am Tag, am Morgen und am Abend. Die Abfahrtszeiten nach Burwick auf den Orkneys: >> Abfahrt und Ankunft der Fähre
Im Winter und Frühling sind die Bewohner der Orkneys auf sich gestellt und vom Festland abgeschottet. Es sei denn, sie besitzen ein Schiff, das sie nach John o’Groats bringt.